In der Appreciative Inquiry (= Wertschätzende Erkundung) sind Fragen ein Kernelement. Die Fragen, die wir uns stellen, als Personen oder als System, legen die Richtung fest, in die wir uns entwickeln. Welche Art von Fragen kann also helfen, eine Bewegung in die gewünschte Richtung anzustoßen?
Das Handwerk des Fragen-Designs
Vor ein paar Tagen hörte ich eine Anekdote über David Cooperrider, einer der zentralen Denker der Appreciative Inquiry. Cooperrider verbrachte drei Monate damit, eine Frage zu entwickeln, um ein Gespräch zwischen religiösen Führern aus der ganzen Welt zu eröffnen. Die Frage, die er ihnen am Ende gestellt hat, war: Können Sie mir etwas über den Moment erzählen, in dem Sie wussten, dass Sie Ihr Leben in den Dienst der Religion stellen wollten? In einem AI-Prozess ist es normalerweise nicht so, dass der Moderator – in diesem Fall Cooperrider –der Gruppe Fragen stellt. Die Teilnehmer werden eher eingeladen, sich in Tandems oder in kleinen Gruppen über die Frage zu unterhalten. Das Handwerk eines AI Practitioner ist das Entwickeln von genau der Frage, die hoffentlich eine Veränderung bewirken wird. Und so die Menschen, die von dem Thema oder der Veränderung betroffen sind, in ein Gespräch zu bringen.
Generative Fragen
Gervase Bushe and Ron Fry benutzen in diesem Kontext den Begriff ‘generative Fragen’. Laut ihnen haben solche Fragen vier Merkmale, die sich auch in Cooperriders Frage wiederfinden, wenn man sich das Gespräch vorstellt, dass die religiösen Führern geführt haben mögen.
- Die Frage lässt eine Verbindung entstehen zwischen den Menschen, die sich über die Frage unterhalten;
- Die Frage ist überraschend;
- Die Frage berührt nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz;
- Die Frage bewirkt eine Veränderung im Denken oder lässt eine neue Perspektive entstehen.
Wenn man diese vier Charakteristika liest, ist es auf einmal weniger überraschend, dass Cooperrider einige Zeit gebraucht hat, eine Frage zu entwickeln, die all dies abdeckt. Mit diesen vier Charakteristika können Sie Ihre eigenen Fragen entwickeln. Eine Aufgabe, die ziemlich herausfordernd sein kann – es müssen nicht unbedingt drei Monate sein, aber ich verbringe regelmäßig Tage damit, mit einer Frage im Hinterkopf umherzulaufen, bevor ich das Gefühl habe, dass sie so richtig ist.
Fragen im Moment stellen
Natürlich kann man nicht so viel Zeit auf jede Frage verwenden, die man stellt. Es gibt viele Situationen, in denen es natürlicher ist, genau in dem Moment über die nächste Frage nachzudenken. Aus Neugier oder aufrichtigem Interesse am Gegenüber. Oder weil Sie denken, dass genau diese Frage Ihrem Gesprächspartner helfen wird. Diese Art des Fragenstellens erfordert eine andere Art Handwerk. Zu fühlen, was in diesem spezifischen Moment gebraucht wird oder hilfreich ist und die Kunst, auf Basis dieses Gefühls eine Frage zu formulieren. Viele von uns tun dies unbewusst, dennoch kann es helfen, sich der verschiedenen Arten von Fragen und ihres Effekts auf die gefragte Person bewusst zu sein. Man kann in Kategorien wie „offene“ oder „geschlossene“ Fragen denken, oder Suggestivfragen. Oder Fragen, die Denkräume öffnen oder schließen. Man kann auch an verschiedene Fragetypen denken, abhängig von dem Effekt, den man mit der Frage erzielen will. Wie zum Beispiel:
- Neugierige Fragen (zum Beispiel: Ich bin wirklich neugierig darauf, mehr zu erfahren, wie Ihr dies zusammen schafft – könnt Ihr mir mehr darüber erzählen?
- Konfrontierende Fragen (zum Beispiel: Was bringt euch dazu, etwas Anderes zu tun als das, was ihr mir gerade erzählt habt?
- Wertschätzende Fragen (zum Beispiel: Was hat es euch ermöglicht, dies zu erreichen? Was sagt uns das darüber, worin du gut bist?)
- Handlungsorientierte Fragen (zum Beispiel: Was ist das erste, was du ab morgen anderes machen wirst?)
- ….
Frage und Antwort?
In der Denkweise der Appreciative Inquiry ist Fragenstellen mindestens genauso wichtig wie das Finden von Antworten. Mehr noch, es steht weniger das Suchen nach „der Antwort“ im Vordergrund, sondern es ist eher eine erkundungsorientierte Art zu arbeiten und zu denken. Diese besteht zum Teil darin, kontinuierlich Fragen zu stellen. Oder, anders gesagt, sich in einen Erkundungsprozess zu begeben. Dies kann sowohl eine individuelle Erkundung sein oder auch die Erkundung eines größeren Systems. Die Kunst liegt darin, die erkundende Frage mit sich herumzutragen, mit ihr zu spielen und zu experimentieren. Oder, in den Worten von Rainer Maria Rilke:
„Forschen Sie nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“